Sternenkind Silas

Die Anfrage kam um 16:14 Uhr: “Der kleine Junge ist in der 38+4. SSW auf die Welt gekommen und die lebenserhalten Maßnahmen werden nun eingestellt. Man weiß nicht genau, wann er einschlafen wird…” 
Während ich das hier schreibe, erinnere ich mich gerade, wie tief ich damals einatmete. Ich erinnere mich noch genau an dieses Telefonat, welches nun schon einige Zeit her ist. Es ist so ein Unterschied zwischen: „Wir haben ein Sternenkind hier, kann bitte jemand kommen“ oder „Wir haben ein Kind hier, welches sehr bald versterben wird, wir rufen an, wenn du losfahren kannst“. Bei ersterem packe ich meine Tasche und fahre los. Zeit zum Nachdenken habe ich im Auto. Ich funktioniere, fahre und komme auf der Situation an. Bei den „anderen“ Anrufen gehen mir 1000 Gedanken durch den Kopf: Das ist immer eine sehr emotionale Zeit für mich, auf Abruf zu stehen. 
Zu wissen, dass eine Familie gerade die schlimmsten Stunden ihres Lebens erleben muss und nicht zu wissen, wann das Telefon klingelt, um losfahren zu können. 
Ich packte meine Tasche. Ich erinnere mich, dass ich mir noch einen Kaffee machte. Eigentlich wollte ich gerade mit der Bildbearbeitung eines anderen Shootings beginnen. Keine Chance, da hatte ich gar keine Ruhe zu. Es kann schnell gehen. Es kann aber auch bis in die Nacht dauern… warten… die Gedanken rauschen vorbei… Knapp zwei Stunden später kam der Anruf, ich könnte mich nun auf den Weg machen. Immer wieder ein komisches Gefühl: eine Mischung aus Trauer, die Eltern verabschieden sich gerade von ihrem Sohn, ich muss versuchen, mich diesen Gefühlen nicht zu sehr hinzugeben.. muss stark sein für meine Aufgabe gleich… auch einer Art Aufregung… 

Ich wusste auch gar nicht, warum der Kleine gehen musste. Wie lange wussten die Eltern bereits, dass ihr Kind versterben würde? War es absehbar? Wer erwartet mich da in dem Raum, wo das kleine Baby gerade eingeschlafen ist? 
Auf der kardiologischen Intensivstation angekommen, musste ich eine Weile warten, bis jemand Zeit für mich hatte. Quälende Minuten. Die einen Eltern kamen, andere gingen an mir vorbei, die ihre Kinder besucht hatten. Ich zog mir einen Schutzkittel an, immer wieder ein komisches Gefühl. Ich war schon einige Male auf dieser Station bei Kindern, die es leider nicht geschafft hatten – auch deren Eltern waren hier tagein tagaus hergekommen, um ihre Kinder zu besuchen. Und an diese Eltern musste ich in dem Moment sehr intensiv denken. Dann holte mich die liebe Schwester ab und brachte mich zu den Eltern. Ich öffnete die Tür und sah den kleinen Silas in dem Bettchen liegen. Nur einen kurzen Blick warf ich ihm zu. Ich begrüßte erst die Eltern und dann ging ich zu dem Kleinen ans Bett.. Ich sah ihn an und musste das alles erst einmal realisieren: Vor mir lag ein scheinbar schlafendes Kind, so friedlich, so süß.. Ich dachte: “Mach die Augen auf, kleiner Mann.” Ich sah ihn an, ich weiß nicht wie lang. Er konnte seine Augen nicht öffnen, denn er war kurz vor meiner Ankunft auf dem Arm der Mama eingeschlafen. Dann irgendwann streichelte ich ihm über seine Haare und sagte: „Was machst du denn für Sachen.“ und ich glaube auch irgendwas wie “Oh mein Gott, bist du süß.” 

Ich fragte die Eltern, was passiert sei. 
Bis zur Geburt war alles gut gelaufen. Der Kaiserschnitt war notwendig, weil Silas sich durch das viele Fruchtwasser ständig gedreht hatte. Bei der Geburt lag er dann in Querlage, darum wurde er per Kaiserschnitt geholt. Nach der Geburt war schnell klar, dass irgendwas nicht stimmte. Silas lief blau an, man vermutete zuerst Anpassungsschwierigkeiten. Eine Kinderärztin kam dazu und erst hieß es, alles wäre gut. Vorsichtshalber holte sie ihren Chef und die Chefärztin dazu und die nahmen Silas gleich mit auf die Kinderstation. Erst hieß es, der Papa dürfte mitkommen, aber dann durfte er doch nicht zu ihm. Plötzlich kamen ganz viele Ärzte angerannt und Silas musste wiederbelebt werden. Man vermutete, dass etwas mit dem Herzen nicht stimmte, eine Röntgenaufnahme brachte keine Klarheit, alles schien ok zu sein. Eine Verlegung war notwendig, aber der angeforderte Rettungshubschrauber konnte aufgrund des Wetters nicht fliegen, also kam Silas mit dem RTW in ein anderes Krankenhaus. Nach etlichen Stunden des quälenden Wartens durfte der Papa das erste Mal zu ihm. Silas wurde inzwischen beatmet und bekam Morphium. Die Mama lag noch 50 km weiter weg im anderen KH und der Papa kümmerte sich um die Verlegung, damit sie auch bei Silas sein durfte. Auf dem Weg ins Krankenhaus kam dann schon der Anruf, dass sie sich verabschieden müssten, Silas würde es nicht schaffen… 

Noch Stunden vorher hatten sich die Eltern auf ihren Sohn gefreut, endlich war er da – und dann das… so surreal… es übersteigt die Vorstellungskraft… 
Die Eltern schafften es ins andere Krankenhaus und konnten sich verabschieden. Silas war friedlich einen Tag nach seiner Geburt im Beisein seiner lieben Eltern eingeschlafen. 
Er hatte keine Verbindung vom Herzen zur Lunge. Man hatte das während der Schwangerschaft nicht erkannt. Keine Chance für den kleinen Mann… Stille. Mehr ist nicht da. 

Und da stand ich nun, mit der Familie und dem so schlafend wirkenden, wunderhübschen Silas. Mir war so schwer ums Herz. Irgendwann fing ich an zu erzählen, wer ich sei, dass ich da wäre, um ihnen Fotos zu schenken. 
Die Mama erzählte mir, dass sie über Facebook von uns erfahren hatte, darum hatte sie selbst gleich eine Nachricht geschickt. Aus diesem Grund mache ich so viel Öffentlichkeitsarbeit für unser Angebot und es freut uns – wenn man in dieser Situation von Freude sprechen kann – dass wir schon so viel bewirkt haben, dass auch betroffenen Eltern wissen, dass sie uns anfordern können. So viele Sternchen treten ihre große Reise in den Himmel an und immer noch zu viele Eltern haben im besten Fall ein Handyfoto, wenn überhaupt. Wie viel unsere Fotos „wert“ sind, das wissen viele oft erst Jahre später. 
Relativ schnell sagte die liebe Mama, dass sie uns unterstützen möchte, ich dürfte auch von Silas berichten. Sie möchte helfen, uns bekannter zu machen – aus dem Grund erzähle ich euch heute seine Geschichte.. 

Silas wurde von der lieben Schwester auf den Arm der Mama gelegt – so ein inniger Moment! Ich fing an zu fotografieren: die Hände, einzeln und mit den Händen der Eltern. Die Mama hatte ihren kleinen Sohn auf dem Arm, gleichzeitig ein Kennenlernen und ein Verabschieden. Das zu verstehen, das kann man nicht – wie sollte man das auch können… Ich nahm Silas vorsichtig hoch und legte ihn in den Arm des Papas. Die Welt schien still zu stehen. Ich fotografierte und irgendwann stand ich einfach da, schaute die beiden an und fragte nach einer Weile, ob ich Silas auch noch alleine fotografieren sollte. Der Papa sagte, er könnte ihn grad noch nicht loslassen. Ich stand einfach da und wartete. Niemand sagte etwas. Ich versuchte,meine Fassung zu bewahren und dann, irgendwann sagte der Papa: “Jetzt kann ich ihn hinlegen.” Vorsichtig legte er Silas auf das Bett der Mama. Ob ich auch seine Ohren fotografieren könnet war ihr Wunsch. Ich fotografierte alles, was ich fotografieren konnte, immer darauf bedacht, jede noch so kleine Erinnerung festzuhalten. Es gibt ja nur diese eine Chance. Zwischendurch nahm ich immer mal wieder das Handy des Papas und machte auch damit Bilder. Später kam die Schwester rein und ich half ihr, Fuss- und Handabdrücke zu machen. Vorsichtig säuberten wir die kleine Hände und Füße wieder von der blauen Farbe – auch diese Erinnerungen sind so wichtig… 

Danach „packten“ wir Silas kuschelig ein und legten ihn vorsichtig in sein Bettchen. Für mich war es an der Zeit zu gehen. Ich verabschiedete mich von der Familie, fuhr schweren Herzens nach Hause und dachte immer wieder an diesen hübschen Jungen, von dem ich dachte, er müsste jeden Moment seine Augen aufmachen… 
Wenige Tage später brachte ich den Umschlag mit den Bildern und dem Buch für die Geschwister zur Post. Am nächsten Tag rief mich der Papa an und bedankte sich für die so wunderschönen Bilder von Silas. Er sagte, er brächte sie nachher zu seiner Frau ins Krankenhaus, sie wäre fast gestorben, es hatte Komplikationen gegeben und keiner wüsste genau, wie lang sie dableiben müsste. Ich ging gerade mit dem Hund, als ich diesen Anruf entgegennahm und blieb stehen. Ich konnte kaum glauben, was ich da gehört hatte. Der Papa erzählte mir, was passiert war und ich dachte nur: “Hat diese Familie nicht schon genug an dem „Päckchen“ zu tragen, welches ihnen auferlegt wurde?” Oh man… 
Ich bin mit der Familie noch in Kontakt und zum Glück konnte die Mama bald wieder nach Hause – und konnte langsam anfangen, das Ganze zu begreifen. Verstehen wird das wohl keiner von uns… 

Ich danke euch fürs Lesen. Und ich danke meinen lieben Kollegen und Kolleginnen: Wir konnten bis jetzt jedes Kind fotografieren, zu dem wir gerufen wurden. Wir sind ein klasse Team!