Sternenkind Lönne

An einem Sonntag wurde ich zu einem ganz besonderen Einsatz gerufen: 
Drei Wochen zuvor hatte ich von der Klinik erfahren, dass Zwillinge geboren worden waren. Dem einen Zwilling ginge es gut, dem Bruder leider nicht. Sie wüssten nicht, wie es sich entwickelt, wollten uns aber schon einmal Bescheid geben. Der Anruf kam von der Neo-Intensiv-Station – Ihr Lieben dort, ihr macht einen so großartigen Job! 
Mit der Info benachrichtigte ich erst einmal meine Kollegen, mehr wusste ich zu dem Zeitpunkt nicht, das war auch erst einmal nicht nötig, denn wir organisierten uns für die kommenden Tage. 
Als ich einige Tage später zu einem anderen Einsatz in den Kreißsaal gerufen wurde, besuchte ich danach die Neo und fragte nach dem kleinen Jungen. Dort sagte man mir, dass er beatmet werden würde. Man wisse noch nicht, wie es weiterginge. Ohne ihn, ohne die Eltern zu kennen, blieb mir dieses Gespräch auf dem Flur noch lange in Erinnerung, denn ich versetzte mich in die Lage der Eltern. Wenige Meter neben dem Zimmer lag der gesunde Zwillingsbruder, ein Pendeln zwischen Bangen und Hoffen, zwischen Freude und Glück, zwischen Verzweiflung und Hilflosigkeit… 
Fünf Tage später war ich leider schon wieder im Kreißsaal und dachte wieder an den kleinen Jungen. 
Ich stand nach meinen Einsatz am Fahrstuhl und als die Tür der Neo gerade aufging, sah ich eine liebe Schwester, die schon einige Einsätze auf dieser Station mit mir zusammen begleitet hatte. Ich fragte erneut, wie es dem Kleinen ginge, sie schüttelte nur mit dem Kopf und sagte traurig: “Nicht so gut – es wird bald entschieden, wann die Geräte abgeschaltet werden.” Oh man, so traurig… 
Ich fragte, ob der Bruder auch noch da sei, ja, das sei er, bestätigte sie. Die beiden Jungen waren in der 34. SSW geboren worden und auch er musste natürlich noch versorgt werden. Ich bat sie, den Eltern vorzuschlagen, die beiden Jungs auch zusammen zu fotografieren, soforn es mit dem Gesunden möglich wäre. 
Dann verabschiedete ich mich mit einem Kloß im Hals. Wieder waren meine Gedanken bei den Eltern und bei dem kleinen Jungen. 

Am Sonntag rief mich die Klinik erneut an, heute sollte es soweit sein und die Geräte würden abgeschaltet werden. Die Eltern wünschten sich auch Bilder mit beiden zusammen. 
Ich hatte ja schon einmal berichtet, dass dieses „Warten“ ganz schlimm ist: zu wissen, dass der Anruf kommt, aber nicht wann. Es ist etwas anderes, wenn ein Alarm eingeht, man entscheidet, ob man los kann und direkt fährt. Keine Zeit zum Überlegen, Tasche packen und los. 
Ich packte meine Tasche, aber diesmal ganz in Ruhe. Ich suchte drei Herzen raus: nicht zwei, wie normalerweise, denn der kleine gesunde Bruder sollte auch für später ein Herz haben. Dann eines für die Eltern – und eines für den kleinen Lönne. Nun wusste ich also auch seinen Namen: Lönne. Was für ein schöner Name… 
Die Tasche stand im Flur und ich wartete. Es war um die Mittagszeit, die Eltern waren nun in der Klink. Immer wieder kreisten meine Gedanken um den bevorstehenden Einsatz. Ich wusste mittlerweile, dass der gesunde Bruder mit auf die Bilder durfte: 
Mein erster Einsatz mit Zwillingen, bei denen es einer geschafft, der andere aber nicht die Kraft gehabt hatte… Ich hatte keine Sorge, was das Fotografieren angeht. Ich hatte hier bei mir zu Hause schon einige Zwillinge fotografiert – aber die Emotionen, die daran hingen, ihr Lieben, ihr könnt euch sicher vorstellen, wie ich mich fühlte… 
Am frühen Abend kam dann der Anruf, dass ich in die Klink kommen könne, der kleine Lönne wäre eingeschlafen, Er würde nun noch gewaschen und angezogen werden. In der Klinik angekommen, musste ich noch einige Minuten warten, bis ich in das Zimmer der Familie durfte.. Ganz lieb begrüßten mich die Mama und die Oma des kleinen Lönne. Sie standen beide am Bettchen und schauten den so hübschen Jungen an. Sie lächelten mich an, es herrschte eine ganz besondere Stimmung im Raum. Ich streichelte ihn und sagte, glaub ich, so etwas wie: “Ach, Kleiner, was machst Du denn für Sachen.” 
Die Mama erzählte mir kurz, was passiert ist: Bei einem ganz normalen Routine-Ultraschall wurde vermutet, dass Lönne unter Blutarmut leide. Die beiden Kinder wurden daraufhin sofort auf die Welt geholt, doch leider kam dann alles anders. Lönne hat durch Sauerstoffmangel bereits im Mutterleib einen schweren Hirnschaden erlitten, wann und wieso, das wußte niemand. Diese Frage wird wohl für immer offen bleiben…