Sternenkind Joshua

Als der Anruf am Donnerstag von der Kinderintensiv kam, da dachte ich: 
“Oh, nein… nicht schon wieder… so viele Einsätze in der letzten Zeit…” 
„Wir haben einen kleinen Jungen hier und wir wissen nicht, ob er es schafft. Die Eltern wünschen sich Erinnerungsfotos, kann einer kommen?“, so die Schwester der Station: „Der kleine Junge lebt.“ 

Diese Einsätze sind so besonders… 
Ich klärte mit meinen lieben Kieler Kolleg:innen kurz ab, wer übernehmen könnte, aber alle waren entweder unterwegs oder auf der Arbeit. Ich konnte einen privaten Termin verschieben und düste gleich los. Auf der Station angekommen, hatte ich die Möglichkeit, mit der lieben Schwester zu sprechen, bevor ich das Zimmer betrat. Sie sagte mir, die Eltern wären im Zimmer und freuten sich, dass jemand da wäre, um Erinnerungsbilder von ihrem Sohn zu machen. Ich betrat das Zimmer und die lieben Eltern standen am Wärmebettchen – dann sah ich ihn, den kleinen großen Kämpfer Joshua. Er wurde beatmet und kleine Schläuche bedeckten seinen Körper. Ganz friedlich schlief er. Ich fragte die Eltern, was los wäre und sie berichteten, dass sie in der 20. SSW erfahren hatten, dass Makrozysten in der Lunge sind. In der 25. SSW wurde in Bonn ein sogenannter Shunt in die Zyste der Lunge des Babys gelegt, um die Flüssigkeit abzuleiten. Leider war diese Behandlung nicht erfolgreich. Man wusste zu dem Zeitpunkt nicht, wie viel gesundes Lungengewebe überhaupt vorhanden wäre. Es hieß abzuwarten und weiter zu hoffen. In der 30+5. SSW kam Joshua auf die Welt und die Mama berichtet mir, dass der Start leichter als befürchtet gwesen war. Joshua kämpfte jeden Tag und die Eltern sagten: “Solange er kämpft, sind wir an seiner Seite.” 
Ich sah Joshua das erste Mal, da war er 7 Tage alt. Am 8. Tag wurde er operiert, der linke (kaputte) Lungenlappen wurde entfernt und die Ärzte sahen bei der OP einen kompletten rechten Lungenflügel, der gut belüftet werden konnte. Erleichterung machte sich breit und alle waren voller Hoffnung. Die Mama sagte mir, sie waren überglücklich, denn nun konnte doch nichts mehr schiefgehen.. Von dieser guten Nachricht und der damit verbundenen großen Hoffnung wussten wir noch nichts an dem Tag, als ich da war… 

Joshua zu bewegen oder aus dem Wärmebettchen zu nehmen, war nicht möglich und so fotografierte ich alles, was möglich war: seine kleinen Hände, seine Füße. Die Eltern streichelten ihn immer wieder. Da Joshua überwacht wurde, konnte die Schwester zu jedem Zeitpunkt sehen, wie es ihm ging. Das Shooting sollte ihn auf keinen Fall anstrengen. “Das gefällt ihm.”, sagte sie. Er schlief ganz friedlich und seine Werte waren gut. Die Schwester brachte noch zwei kleine Kuscheltiere und die Eltern wählten eines für Joshua aus. Diesen „Kumpel“ durfte er behalten. 
Die Blicke der Eltern waren so voller Liebe und so voller Schmerz. Immer wieder liefen die Tränen bei den lieben Eltern. Wie groß ist der Schmerz auch, sein kleines Baby dort an Schläuchen angeschlossen zu sehen, nicht so recht zu wissen, was die Zukunft bringt, aber voller Hoffnung? Joshua war so ein großer Kämpfer. 

Joshua hatte einen großen Bruder. Marlon war 4 Jahre alt und durfte nicht mit auf die Intensivstation. Die Eltern zeigten mir von Fenster aus die Stelle, an der er immer stand, um in einigen Metern Entfernung einen Blick ins Fenster zu erhaschen. Er wusste ja, dass er einen kleinen Bruder hatte und konnte natürlich nur schwer verstehen, warum er nicht zu ihm durfte. Ich fand es toll, dass die Eltern diese Möglichkeit gefunden hatten. Sie waren so viele Stunden am Tag weg. So viele Stunden, in denen sie dann natürlich keine Zeit für Marlon hatten – und so war er ein Stückchen mit einbezogen. Irgendwann beschlossen wir, dass wir alles fotografiert hatten, was die Eltern sich gewünscht hatten. Nach ca. einer Stunde verließ ich die Familie und wünschte ihnen ganz, ganz viel Kraft und Hoffnung für die kommende Zeit. Ich verabschiedete mich von Joshua und sagte ihm, er sollte weiter kämpfen… 

Es dauert immer ein paar Tage, bis ich die Mappe für die Eltern fertig gepackt habe. Die Bilder müssen bearbeitet und entwickelt werden. An dem Wochenende hatten wir Besuch von meinem Schwager und meiner Schwägerin. Ich hatte ganz viel um die Ohren, hatte aber immer wieder an die so liebe Familie gedacht… Am Sonntag dann lag der Umschlag fertig gepackt und versandfertig im Büro. Ich hatte an jenem Sonntag Besuch von meiner Familie und wir hatten uns gerade zum Kaffee zusammengesetzt. Dann klingelte mein Handy: Ein erneuter Anruf von genau dieser Station. Der kleine Joshua war verstorben, die Eltern wünschten sich Bilder. Die ganze Familie wäre versammelt, um sich zu verabschieden. Ich dachte nur: “Oh, nein!” Mein Mann sah es mir sofort an. Ich war hin und her gerissen. Ich hatte am Samstag Geburtstag gehabt und die Familie war ja wegen mir zum Kaffee da. Konnte ich schon wieder einfach losfahren? Ich schrieb kurz mit meinen Kolleg:innen und fragte, ob jemand Zeit hätte, wusste aber, dass ich eigentlich selbst fahren wollte. Die Familie kannte mich ja schon… Nur wenige Minuten später entschied ich hinzufahren, alles andere fühlte sich falsch an. Ich sah meinen Mann an er sagte nur: “Fahr!” Danke Schatz, dass du immer hinter mir stehst! 
Ich glaube, ohne Rückhalt der eigenen Familie ist das aufgrund der Anzahl der vielen Einsätze hier in Kiel nicht zu schaffen. Ich nahm noch schnell einen Schluck Kaffee, den Kuchen rührte ich nicht an: An Hunger war in diesem Moment nicht zu denken. Der kleine süße Joshua, dachte ich, hatte nun seinen Kampf doch verloren… 

In der Nacht zu Sonntag war seine Lunge kollabiert und am Sonntag war eine OP nötig gewesen. Die Mama erzählte dann später, dass sie Joshua gestreichelt und seine Hand vor der OP gehalten hätte. Er hatte ein letztes Mal die Augen geöffnet und den Finger der Mama zwei Mal gedrückt, bevor es in den OP gegangen war. Joshua hatte diese OP leider nicht überlebt. Ich glaube ganz fest, er wusste das und hatte sich so von seiner Mama verabschiedet. Im Krankenhaus angekommen, betrat ich das Zimmer, in dem ich nur drei Tage zuvor gewesen war. Die Mama saß am Fenster – mit Joshua auf dem Arm… Der Papa stand daneben und die Omas von Joshua waren ebenfalls anwesend. Ich sah den Kleinen an und streichelte ihn: “Ach Süßer, der Plan war aber ein anderer.” Das sagte ich zu ihm. Die Mama streichelte ihn: “Ja, der Plan war anders…” Ich drückte die Eltern und sagte ihnen, wie leid es mir täte… Zwei Schwestern waren mit im Zimmer. Die eine verabschiedete sich von der Familie und beugte sich zu Joshua herunter. Sie streichelte ihn liebevoll. Mir laufen die Tränen, wenn ich an diese Situation zurückdenke… Sie sprach mit ihm, wünschte ihm eine gute Reise. Alle im Raum weinten – so schwere Stunden… Kurze Zeit später kam der Opa mit dem großen Bruder Marlon hinein und wenige Augenblicke später Joshuas Onkel. 

Nun habe ich schon so viel geschrieben und komme jetzt erst zu dem Punkt, warum es mir so wichtig ist, euch von diesem Einsatz zu berichten: Joshuas Bruder durfte ihn sehen. Die Eltern hatten Marlon die Möglichkeit gegeben, seinen Bruder kennenzulernen, ihn anzuschauen, vielleicht sogar ihn zu berühren, ihm ein Kuscheltier zu geben… und… sich von ihm zu verabschieden. 
Für viele undenkbar und für „Nichtbetroffene“ so nachvollziehbar, denn man meint, die Kinder müssen geschützt werden, dürfen doch ihr totes Geschwisterchen nicht sehen. Welch’ Trauma würden sie erleiden? In diese Richtung gehen ganz viele Gedanke und ich kann euch sagen: Aus meiner Erfahrung ist genau das Gegenteil der Fall. Kinder gehen so unbefangen mit dem Tod um. So viele Erwachsene haben große Probleme damit. 

Eine betroffene Mutter ging im Dorf spazieren und bemerkte, wie eine Bekannte in weiterer Entfernung die Straßenseite wechselte, nur um nicht mit ihr sprechen zu müssen. Warum? Weil wir nicht gelernt haben, mit dem Thema Tod umzugehen. Sie hatte die Seite gewechselt, weil sie die Mama wahrscheinlich nicht ansprechen wollte. Sie wollte vielleicht nicht, dass sie traurig ist oder anfangen muss zu weinen, aber ganz ehrlich: Natürlich war die Mama traurig – sie hatte ja gerade ihr Kind verloren! Wahrscheinlich hätte sie auch geweint, wäre sie angesprochen worden. Ein dicker Drücker und ein “Es tut mir sehr leid” wäre genau das Richtige gewesen. Diese betroffene Mama sagte mir, diese Situationen waren so schlimm. 
Ich möchte euch ermutigen, mit den betroffenen Eltern zu sprechen. Wenn sie nicht reden wollen, dann werden sie es euch sagen: “Du, sei mir nicht böse… heute ist ein schlechter Tag… ich mag nicht reden…” Und dann ist es gut – aber man hat Anteil genommen… 
Und vielleicht denkt ihr an meine Worte, solltet ihr mal in so eine Situation kommen… Aus diesem Grund glaube ich, können sich viele nicht vorstellen, die eigenen großen Kinder mit einzubeziehen, weil sie sie schützen wollen. Aus meiner Sicht der falsche Weg und aus diesem Grund möchte ich euch von Marlon berichten, wie er mit der Situation umgegangen ist und wie die Familie damit umgegangen ist… 
Als Marlon das Zimmer mit seinem Opa betrat, ging er gleich zu seiner Mama und dem kleinen Joshua. Er sah ihn an und ging ganz unbefangen mit der Situation um. Die Mama fragte ihn, ob er ihn auch mal halten möchte und Marlon setzte sich auf den Sessel. Joshua wurde ganz vorsichtig in Marlons Schoß gelegt. Ihr hättet ihn sehen sollen: Er war richtig stolz, dass er ihn halten durfte! Marlon durfte den Kleinen vorher ja nicht sehen und heute durfte er ihn kennenlernen – und sich von ihm verabschieden, wobei er das sicher nicht verstand, was ein „Tschüss“ sagen in dem Moment bedeutete… Ich fing an, die Situation zu fotografieren.. Marlon sprach mit seiner Mama. Sie schauten sich die süßen Finger an, seine Ohren. Joshuas Schlauch durfte noch nicht entfernt werden und auch da fragte Marlon ganz interessiert, wofür dieser wäre. Die Mama erklärte ihm alles. Ich zeigte Marlon zwei Schmetterlinge und er durfte sich einen aussuchen. Ich erklärte ihm, dass der andere Schmetterling bei Joshua bliebe und immer, wenn er nun einen echten Schmetterling sähe, Joshua ihm einen Gruß aus dem Himmel geschickt hätte. Er „gab“ Joschua seinen Schmetterling und spielte Fliegen mit dem anderen. Es schien, als wäre dies eine ganz normale Situation. Marlon hatte ein paar Minuten – ich finde schwer ein Wort, vielleicht trifft „Leichtigkeit“ es ein bisschen – in diesem von so schwerer Trauer belagerten Raum verbracht. Er gab seinem Bruder auch ein Küsschen und streichelte ihn: „Mama, nimmst du Joshua jetzt mit nach Hause?“, fragte er auf einmal. Die Mama erklärte ihm, dass dies nicht ginge und Joshua da bleiben müsste. Kurz darauf sagte Marlon, dass er Hunger hätte. Kinder sind total unbefangen – das möchte ich euch auch mit den Worten von Marlon widerspiegeln… 
Die Mama fing zwischendurch immer wieder an zu weinen. Da kuschelte sich Marlon an sie ran. Es war ja auch bestimmt merkwürdig, die eigene Mama so zu erleben. Aber er würde es verstehen, denn nun wußte er ja, warum seine Mama und auch sein Papa in der Zukunft traurig sein würden, dass sie weinten, weil sie Joshua nicht mit nach Hause nehmen durften. Wie hätte er es sonst verstehen sollen, hätte er seinen kleinen Bruder nicht kennenlernen dürfen? Wir machten noch ganz viele Bilder. Auch die Omas trauten sich und wollten Erinnerungen haben. Marlon spielte währenddessen mit den beiden Schmetterlingen und irgendwann verabschiedete ich mich mit schwerem Herzen… 

Einige Tage später schrieb mir die Mama, dass Marlon fast jeden Tag von Joshua spräche. Sie glaubte, dass dies ohne das Kennenlernen nicht so gewesen wäre. Marlon bezöge Joshua auch in sein Spiel ein, so musste seine Mama einmal einen großen Joshua spielen – denn der Kleine wäre ja leider tot und säße auf einer Wolke und könnte nun nicht mit ihm hier spielen… Diese Worte gingen mitten ins Herz: Zum Einen taten sie weh, weil Marlon nie mit seinem Bruder spielen werden kann, zum Anderen war es so toll, dass Marlon sich „so“ verhielt und ein ganz wichtiger Schritt: Er verarbeitet und hilft auch so der ganzen Familie ein ganz großes Stück weiter… 
Die Familie möchte andere Eltern ermutigen, auch diesen Schritt zu wagen. 
Lasst eure Kinder teilhaben, lasst sie ihre Geschwisterchen kennenlernen… 

Ihr Lieben Eltern, ich danke euch von Herzen, dass ich euren Joshua, Marlon und euch kennenlernen durfte und dass ich eure Geschichte erzählen darf, um weiter aufzuklären, dass es uns gibt, uns Sternenkindfotograf:innen, und dass jeder zumindest darüber nachdenken sollte, es den großen Kindern zu ermöglichen, ihr kleines Geschwisterchen kennenzulernen und Abschied zu nehmen – denn die Zeit, in der es hier sein darf ist nur so kurz, es hilft den Kindern zu verstehen.